Vielleicht war alles was sie wollte ein wenig Verstehen. Etwas Wissen, in all dieser Ahnungslosigkeit. Vielleicht war es das.
Als ich sie das erste Mal treffe, da leuchten ihre Augen. Ihre langen, wallenden Haare glänzen, wie frisch von einem dieser Weleda-Werbeplakate herabgestiegen steht sie da und sieht mich an. So viele Jahre ist es her, und doch kommt es mir vor, als wäre es gestern gewesen. Ihre steingrauen Augen taxieren mich, sie halten meinen Blick fest in der Horizontalen, es gibt keine Chance, ihr auszuweichen oder den Blick zu senken. Viel zu verloren bin ich in ihren Augen, in denen eine Welt verborgen zu liegen scheint, die weder sie noch ich jemals begreifen werden. Ich strecke meine Hand nach ihr aus, und lächele, und sie erwidert mein Lächeln, ein kongruentes gerades Lächeln hinter gebleckten Lippen, die durstig den Atem der Welt inhalieren. Sie hat so viele Träume und Wünsche, dass ihr ganzes Antlitz zu beben scheint vor Begierde danach, die Türen aufzustoßen und in die Welt hinauszubrechen, wie ein Orkan, der ewig lebt.
„Vielleicht,“, sagt sie, und ihre braungebrannten Hände drehen eine kleine Locke in die braunen Haare, gleiten durch das nach Apfelshampoo riechende Meer hinweg und wischen eine Haarsträhne von ihrer mit Sommersprossen übersäten Nase. „Vielleicht will ich Tiermedizin studieren. Oder Medizin. Psychiaterin werden wäre cool. Oder Pathologin.“ Sie lacht und bleckt mir ihre Zähne entgegen, bevor sie an ihrer Zigarette zieht und kleine weiße Traumwolken in die Luft hinaufsteigen lässt. „Und lieben.“, sagt sie. „Ich will lieben. Eine Frau oder einen Mann, wen auch immer, und ich will mit ihm oder ihr um die Welt reisen. Nach Afrika. In die Sahara. Und zu den Polarlichtern, ich will unbedingt die Polarlichter sehen!“
„Du,“, will ich sagen, „du bist ein Polarlicht.“ Aber ich schweige, weil sie gerade so in ihrem Elan zu sein scheint, und so durstig und hungrig nach Leben dass meine Worte sie wahrscheinlich nicht interessieren werden. Vielleicht würde sie sie gar nicht hören, würde ich jetzt sprechen.
Als ich sie das nächste Mal sehe, ist der Tag vergangen, und der Abend ist aufgezogen. Irgendwo ein Licht am Horizont, vielleicht der Mond, vielleicht auch eine Straßenlaterne. Ihre Augen glänzen, die braungebräunten Arme umklammern ihren wunderschönen Körper. Sie lächelt und sieht mich an. Ihr Atem riecht nach Alkohol, es ist Partyzeit verstehe ich, endloses Tanzen und Schweben, Lachen und Beben und Vergehen.
„Ich vergehe in mir.“, sagt sie, und obwohl ich nicht weiß was sie mir damit sagen möchte, kann ich es spüren. Da, wo wir sonst nichts spüren, da fühle ich ihre Worte. Ihre Haare sind so wunderschön, sie sind nass und stinken nach Zigarettenrauch, aber sie sind immer noch wunderschön. Ich will es ihr sagen, dass sie wunderschön ist, aber ich weiß, dass der Moment nicht passen würde.
„Als ich nach Hause gegangen bin,“, sagt sie. „Da lag da diese Katze. Überfahren. Keine Augen mehr in ihrem Schädel, nur Augen auf der Straße, wie eine Suppe, ein Eintopf, Champignons auf der Straße, gedünstet in Blut und Autoreifen.“ Ich nicke. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich will sie an die Polarlichter erinnern, aber der Zeitpunkt scheint mir nicht passend zu sein.
„Kannst du den Mond sehen?“, fragt sie mich. Ich blicke in den Himmel und betrachte das kleine, weiße Licht über uns. „So voller Schatten.“, sagt sie, und zieht den Schleim in ihrer Nase in ihre Kehle, bevor sie sich mit ihren kleinen Händen unschuldig über die Sommersprossennase wischt. Auf einmal bebt der schmale Körper, ein Lachen steigt aus ihrer Kehle hervor und erleuchtet die Nacht.
„Lass uns feiern!“, ruft sie aus, dreht sich um und rennt davon, ihre nackten Füße klatschen über den Asphalt, die Pumps in der Hand und die nassen Haare im Gesicht.
Ein paar Mal treffen wir uns noch, in solchen Nächten. Meistens schweigt sie, und die Jahre vergehen im Schweigen.
In einer Nacht, da schweigt sie nicht. Der Mond ist lange hinter den Wolken verschwunden, das Gewitter schon längst aufgezogen und vorrübergegangen, aber sein Beben ist geblieben, der Donner lebt in ihr und das Blitzen in ihren Augen berührt eine Welt in mir, deren Namen ich nicht weiß. „Ich habe die Liebe gefunden!“, sagt sie. Ihre Stimme klingt kalt und belegt, und ich überlege, ob sie krank ist. Wie eine Grippe, eine Infektion die nie vergeht. Um ihren Hals schimmert eine Kette aus rosafarbenen Handabdrücken, zarte Würgemale, die sie zieren wie eine Kriegerin. Ich kann meinen Blick nicht von ihrem Hals abwenden. Ihre Haare verbergen das Meiste, aber ich kann die Kette sehen, klar und deutlich, wie ein Hilfeschrei der niemals wieder verstummen wird. In ihrer Hand eine kleine, rosafarbene Tablette mit einem Herzemblem.
„Das ist Liebe.“, sagt sie, und lacht. Es ist das dunkelste Lachen, das ich jemals von ihr gehört habe. Ich will sie fragen, was mit ihrem Studium ist. Für welchen Weg sie sich entschieden hat, und ob sie schon verreist ist. Weil mir die Worte fehlen, schüttele ich nur schweigend den Kopf.
„Afrika?“, sage ich schließlich.
„Afrika.“, wispert sie. „Irgendwann.“ Dann führt ihre erblasste Hand die Tablette zu ihrem Mund, sie streckt mir ihre belegte Zunge heraus und legt die Tablette darauf ab. „Afrika ist Liebe.“
Ich vermisse sie. Dieses wunderschöne Mädchen, das ich kennengelernt habe. Das mir so viel Hoffnung gegeben hat. Das vermisse ich, und weil ich das Vermissen nicht ertrage wende ich mich von ihr ab und lasse sie einige Jahre alleine ihren Weg gehen. Sie wird ihn schon finden, damit tröste ich mich in manchen schlaflosen Nächten, in denen ich den Mond betrachte und mich frage, ob sie schon das Licht geworden ist, oder ob die Schatten sie zerfressen haben.
Irgendwann erfahre ich, dass sie in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Anstalt eingeliefert worden ist. Ich beschließe, dass ich sie besuchen muss. Dass ich es muss, weil ich es ihr schuldig bin, und obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, stehe ich eines Tages in dieser Klinik, inmitten von weißen, sterilen Wänden. Desinfizierte Hände öffnen mir die Türen, mit einem metallischen Klacken rastet das Schloß hinter mir ein. Die Luft riecht nach infizierten Menschen, nach einem Virus den niemand so ganz begreifen und fassen kann, aber der existiert, irgendwo in unserer Gesellschaft, hinter verschlossenen Türen und in den letzten Winkeln unserer Städte und Dörfer. Ihre Haare riechen wieder nach Apfelshampoo, aber der Duft der Resignation hat sich über sie gelegt, wie ein Schleier aus einer Zukunft, die uns alle erwartet.
„Ich habe gesucht, aber nie gefunden.“, sagt sie, und ich weiß, was sie meint, ohne dass sie ihre Worte näher erörtern muss.
„Ich weiß.“, sage ich. „Ich weiß.“
Und dann nehme ich ihren Kopf in meine Hände und wiege sie in den Schlaf. Sie ist so dünn geworden. Soll ich ihr sagen, dass sie an falschen Orten gesucht hat? Soll ich ihr sagen, dass sie das Licht gewesen ist, und dass sie kurz davor steht, es auszulöschen? Ich entscheide mich dafür, zu schweigen. Sie wirkt so krank und verletzlich, wie ein ausgetrocknetes Flußbett liegt sie in meinen Armen. Ihr Körper zittert, ganz sachte, wie ein letztes Aufbäumen in einem Jahre andauerndem Kampf um Gerechtigkeit. Ich kann den Wahn in ihr spüren. Gierige, kleine Händen strecken sich aus ihrem Herzen empor und ziepen an meiner Kleidung. Während ich sie in den Schlaf wiege, da erschlaffen die Hände irgendwann, und ich bin erleichtert, dass sie mich nicht zu fassen bekommen haben. An mehr denke ich nicht.
Ich sehe ihr zu, wie sie wieder aufsteht, am nächsten Morgen, und wie sie beginnt, dem Wahn zu begegnen. Ich beobachte jahrelang ihre Schritte zurück in diese Welt da draußen, und frage mich, dann und wann, wie es so weit kommen konnte.
Eines Tages, da beschließe ich, sie noch einmal zu besuchen. Ich will ihr sagen, dass ihre Träume noch nicht vorbei sind. Dass Afrika wartet, und dass sie das Polarlicht ist.
Erst, als ich ihr gegenüberstehe, da bemerke ich, dass das nicht mehr das Mädchen ist, dem ich vor so vielen Jahren das erste Mal begegnet bin. Die Zeit ist kein Anker, sie ist ein Boot, und sie schwimmt weg, solange du denkst, sie würde still in ihrem Hafen liegen und auf dich warten. Genauso ist sie geschwommen, immer weiter und weiter, und jetzt, wo ich das weiß, da weiß ich, dass es falsch war, zu warten. Dieses wunderschöne Mädchen voller Licht, das ist weggeschwommen, während ich mir überlegte, wie ich ihr sagen kann, was ich ihr sagen will. Da sitzt sie, entkräftet und ermüdet.
„Weißt du was Gliederschmerzen sind?“, sagt sie. Ich kann mir vorstellen wie sich das anfühlen muss, nach all dem Jahren voller schwimmen, stromauf- und stromabwärts, und doch nie ans Ziel kommend, also nicke ich.
„Ich bin müde,“, sagt sie, und mir fällt auf, dass ihre Augen grau geworden sind, wie die Steine in ihrem ausgetrockneten Fluß.
„Ich bin so müde, dass ich mich frage, wo das Bett ist, aus dem ich nicht mehr aufstehen muss. Ich weiß, was du denkst, aber dem ist nicht so. Ich bin perfekt. Ich bin perfekt angepasst, perfekt arbeitend, es reicht mir, nette Bilder von Afrika und den Polarlichtern auf Facebook zu betrachten und zu wissen, dass es Menschen gibt, die ihre Träume erreicht haben. Ich like ihre Beiträge. Das ist fast, als hätte ich es selber erreicht, verstehst du?“
Ich verstehe nicht. Ich habe keine Ahnung, wer oder was Facebook ist, aber ich verstehe, dass etwas passiert ist, das ich hätte verhindern können. Endlich, nach all den Jahren, spüre ich, dass es keinen geeigneten Zeitpunkt gibt. Nur heute. Es gibt nur heute.
„Du bist das Licht!“, sage ich.
Ich kann sehen, wie meine Worte an einer unsichtbaren Wand vor ihrem Antlitz abzuprallen scheinen, dort, wo früher eine Tür war, durch die ich ihr begegnen konnte, wann immer ich wollte, ist heute eine Mauer, die für mich unüberwindbar scheint. Sie hört mich, aber sie versteht mich nicht.
Sie lächelt, müde, ihre Mundwinkel zucken nervös. Eine Weile scheint sie über meine Worte nachzudenken, oder über ihre Worte, oder über beides.
„Wenn du jemals wieder einem Menschen wie mir begegnest,“, sagt sie dann. „Einem Menschen, der jung ist und frei wie der Wind- dann sag ihm das. Sag es ihm, bevor er denkt, er müsste das Licht in anderen Menschen finden. Sag es ihm, bevor er zu müde ist, um das letzte Streichholz anzuzünden.“ In ihren grauen Augen in dem bleichen Gesicht blitzt es kurz auf, und eine einzelne Träne bahnt sich den Weg in das Leben. Ich will ihr die Träne wegwischen, ihren Kopf in meine Arme nehmen, so wie damals in der Psychiatrie, und strecke ihr meine Hand entgegen. Aber meine Hand prallt gegen das kalte Glas des Badezimmerspiegels, der zwischen uns beiden steht. Ein Fingerabdruck bleibt auf dem Glas zurück. Meiner oder ihrer? Ich weiß es nicht.
„Du bist erwachsen geworden.“, sage ich, und die Trauer überrollt mich wie eine Welle.
„Ja,“, sagt sie. „Ich wollte nie erwachsen sein.“
Und dann weinen wir beide, als hätten die Jahre uns niemals getrennt.
„Ich werde dich nie vergessen.“, sage ich schließlich. „Ich werde dich nie vergessen, und ich werde immer an dich denken. An dein Lachen, deine Jugend und deine Schönheit. An dein Leid und dein Elend, deine ewige Suche- und daran, wie du in Vergessenheit geraten bist werde ich auch denken, auch dann, wenn du alt und grau geworden bist und niemand deine Geschichte mehr kennt. Ich werde an deine Träume denken, an deine Wünsche und an deine Ziele. An die großartige Tierärztin oder Pathologin die du hättest werden können, an die Familie die du hättest gründen können, an die Polarlichter, die du so gerne sehen wolltest und an die Afrikareise, die du hättest unternehmen können und für die du heute zu müde geworden bist. Und, ich verspreche es dir: Ich werde es ihnen sagen. Jedem, dem ich begegne, der so ist wie du es einmal warst, dem werde ich sagen, dass er das Licht ist. Ich verspreche es dir.“
Du bist das Licht.
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